Bericht aus der Werkstatt von Occupy Wallstreet

Nachricht aus einem anderen Amerika –
Bericht aus der Werkstatt von Occupy Wallstreet
Von Lane Arye
Übersetzung: Ursula Hohler
In Ensuite Kulturmagazin veröffentlicht. Nr. 109 Januar 2012

Vor kurzem führte ich ein Gespräch mit einer Gruppe von Organisatoren und Aktivistinnen der «Occupy Wall Street»-Bewegung (OWS) über ihre Eindrücke aus verschiedenen Teilen der USA. Sie interessierten sich dafür, wie meine Erfahrungen als Therapeut, Konfliktarbeiter und «Worldworker» (1) für die Mitglieder der Bewegung hilfreich sein könnten. Nach unserer Telefonkonferenz ermunterten sie mich, diesen Artikel zu schreiben.

Die OWS wird von vielen Seiten kritisiert. Die Kritik kommt ebenso aus den Reihen der alteingesessenen sozial engagierten Organisationen wie von den Kommentatoren in den Mainstream-Medien.

Von unseren Kritikern können wir immer auf mindestens zwei Arten etwas lernen. Sie können uns einerseits helfen, besser zu werden, indem sie uns aufzeigen, wo wir wirklich etwas ändern sollten. Andererseits kann ihre Kritik paradoxerweise ein Zeichen sein, dass wir dafür, wofür wir kritisiert werden, noch nicht genug einstehen. So gesehen zeigen uns unsere Kritiker Stärken auf, von denen wir noch gar nicht wissen, dass wir sie haben.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Generalversammlungen (GV) bieten eine Gelegenheit zum Auftreten für Menschen, die gehört werden und etwas beitragen wollen, ohne dabei darauf zu achten, welche Wirkungen sie auf die tausend Leute haben, die zuhören. So wurde kürzlich eine GV von einer kleinen Gruppe frustrierter Männer kurzerhand übernommen, indem sie die ganze Versammlung beschimpften und bedrohten. Auch in weniger dramatischen Situationen sind die meisten GVs mit Meinungen, widersprüchlichen Aussagen und Wiederholungen vollgestopft, weil alle unbedingt persönlich gehört werden wollen.

Eine Kritik an diesen Zuständen ist sicher richtig. Ja, westlicher Individualismus kann problematisch sein und es ist nie zu spät um zu lernen, an die Gemeinschaft zu denken. Aber vielleicht hat dieser Individualismus auch etwas Schönes an sich. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie endlich auch über Wirtschaft reden können, dass ihre Stimme wichtig ist, dass sie nicht die Klappe halten und irgendwelchen Grossmäulern im Fernsehen zuhören müssen, die meinen, es besser zu wissen.

Wenn wir über diese immer wieder auftretenden Störungen und Probleme nachdenken, kann es hilfreich sein, wenn wir Rollen identifizieren. Überall wo Menschen zusammen kommen, gibt es verschiedene Rollen, die wir oft übernehmen, ohne es zu merken. Im Folgenden werden wir uns mit den Rollen beschäftigen, die im Umfeld von OWS auftreten.

Individuen, die in GVs gehört werden wollen, besetzen oft die Rolle, die Aufmerksamkeit will: «Bitte nimm mich wahr! Ich habe etwas zu sagen!» Während vielen Jahren hat unser sogenannt demokratisches System in den USA die Stimmen dieser Menschen ignoriert. Sie wurden durch wirtschaftliche und finanzielle Ungleichheiten ebenso ausgeschlossen wie durch ein politisches System, das den Bürgern kaum mehr bietet, als eine Chance zu wählen. Aber jetzt findet diese Rolle eine öffentliche Stimme.

 

Diese Rolle spricht zu einer anderen Rolle, die nicht zuhört. Viele Banker, Politikerinnen und die Medien sind Teil dieser Rolle. Diese Rolle sagt: «Schweig! Ich höre dir nicht zu.» (Oder, wenn sie gelernt hat, subtiler vorzugehen: «Ich wünschte, die Protestierenden hätten eine einheitliche Botschaft.»)

Und dann muss es noch eine dritte Rolle geben: die zuhörende Rolle, die den Raum zur Verfügung stellt und das entgegen nimmt, was jemand anbietet.

Wenn Versammlungsleiterinnen und Organisatoren, Aktivistinnen und Aktivisten wissen, dass es diese drei Rollen im Raum gibt, kann dies für sie von Nutzen sein. Wenn zum Beispiel jemand in einer GV viel spricht, könnte der Gesprächsleiter wiederholen, was der/die Sprechende gesagt hat und es in der Essenz zusammenfassen, so dass die Sprechenden wissen, dass sie gehört wurden und vielleicht sogar besser verstehen, was sie eigentlich sagen wollten.

Ich habe erlebt, wie dies in vielen verschiedenen Ländern funktioniert hat. So konnte ein bosnischer Kroate während eines Forums in Kroatien kurz nach dem Balkankrieg nicht aufhören zu sprechen und hielt geradezu einen Filibuster, obschon ihn seine Kollegen anflehten, aufzuhören. Doch nachdem ich ihm gegenüber wiederholt hatte, was ich zu verstehen meinte, dankte er mir und setzte sich. Wenn die Menschen sich gehört fühlen, hören sie auf, Redezeit zu beanspruchen, weil es für sie eine Erleichterung ist, wenn die Rolle des Zuhörenden besetzt wird.

Natürlich ist es oft eine Herausforderung, diese Rolle auszufüllen. Jede(r) will reden, aber wer kann wirklich zuhören? Im «Worldwork» sagen wir, dass die Ältesten (Elders) diejenigen sind, die allen Stimmen zuhören, die dafür sorgen, dass alle sprechen können und gehört werden und die in einem gegebenen Konflikt für alle das Beste wollen. OWS braucht mehr Älteste, wie der Rest der Welt auch.

Wenn wir davon ausgehen, dass vermutlich jedermann gehört werden möchte, können wir auch versuchen, die Rolle des Zuhörers zu kultivieren. Dies könnte zum Beispiel so aussehen, dass Grossgruppen in Gruppen mit zwei oder drei Personen aufgeteilt werden, welche ein aktuelles Thema miteinander diskutieren.

«Occupy Minneapolis» hat diese Möglichkeit mit grossem Erfolg während einem Prozess zur Konsens-Findung eingesetzt, der zuvor regelmässig blockiert wurde. Nach einem Austausch in Zweiergruppen konnte die ganze Gruppe weiterarbeiten. Eine australische Aktivistin hat eine andere Lösung gefunden, indem sie die Mitglieder einer Gruppe bat: «Halte deine Hand hoch, wenn dies deine erste GV ist.»; «Halte deine Hand hoch, wenn du am City Square gecampt hast.»; und «Halte deine Hand hoch, wenn du bei der Räumung dabei warst.».

Beide Methoden haben den jeweils Versammelten die Erfahrung vermittelt, dass ihnen jemand zuhörte und dass sie ein wichtiger Teil waren von dem, was passierte.

Eine ähnliche Rolle wie der Zuhörer hat die Rolle, die etwas schätzen kann. Manchmal werden Leute in einer GV angegriffen, wenn sie sich in einer Leitungsrolle versuchen. Wie viel aufregender könnte es sein, wenn der Mut, eine neue Rolle auszuprobieren, begrüsst und geschätzt würde!

Ein OWS-Camp hat dafür eine andere Lösung entwickelt und eine grosse Tafel aufgestellt, auf der anonyme oder unterzeichnete anerkennende Bemerkungen über Menschen im Camp aufgeschrieben werden konnten. Das ist noch eine Art, zu zeigen, dass Menschen gehört werden!

Die Rolle, die gesehen werden will, ist verbunden mit der Rolle derjenigen, die etwas beitragen möchten. Manchmal sind sogar erfahrene Organisatoren unsicher und wissen nicht recht, wie sie etwas zu dieser Bewegung beitragen könnten, die eine eigene Kultur hat, die ihnen vielleicht weder strategisch noch nachhaltig vorkommt. Sie fühlen sich möglicherweise machtlos, wenn sie sich an die GV-Kultur und die Regeln, welche von den OWS-Organisatoren aufgestellt wurden, anpassen müssen. Und Menschen, die zum voraus annehmen, dass sich die lange Geschichte der Unterdrückung einmal mehr wiederholen könnte, werden wohl nicht das Gefühl haben, ihre Stimme und ihr Beitrag seien besonders willkommen.

Wenn wir an die begleitende Rolle denken, diejenige, die einen Beitrag entgegennimmt, finden wir  Möglichkeiten, mit dieser Dynamik umzugehen. Die Verantwortlichen könnten zum Beispiel den Anwesenden vorschlagen, sich in kleinen Gruppen darüber auszutauschen, was jede(r) einzelne persönlich zu dieser Bewegung beitragen könnte. Die Mitglieder dieser Kleingruppen könnten dann auch Möglichkeiten und Strategien diskutieren, ihre Beiträge in die grosse Gruppe einzubringen.

Viele Menschen möchten etwas beitragen, aber sie wissen nicht wie. Es ist wichtig, sie dabei zu unterstützen, ihre Stärken zu erkennen und ihren Wunsch zu erfüllen, etwas beizutragen.

Auf diese Weise vermeiden wir Gefühle von Entmutigung und Machtlosigkeit und die unerwünschte Wirkung, dass Menschen nicht mehr kommen oder andere davon abhalten, sich in der Bewegung zu engagieren. Gleichzeitig erhält eine Bewegung neues Leben, wenn von den «Graswurzeln» neue Ideen und Energien kommen.

Als ich mit meinen Gesprächspartnern über diese Ideen sprach, haben sie vieles sofort ausprobiert.

Eine junge Schwarze aus New York sprach über ihre Frustration darüber, dass, wenn Schwarze in OWS auftauchten, ihre Beiträge oft gering geschätzt wurden. Sie äusserte das Gefühl, dass OWS genau das Gegenteil braucht – dass diese Beiträge geschätzt und wichtig genommen werden sollten, so dass sich die Bewegung weiter ausbreiten und diversifizieren kann.

Ein anderer Schwarzer, ein Organisator aus Philadelphia, fragte nach, wie sie sich das genau vorstelle. Ihr ursprüngliches Zögern verwandelte sich in Begeisterung, als er mit Wertschätzung und Interesse auf ihre Ideen einging. Als er ihr daraufhin ein Coaching anbot, nahm sie sein Angebot gerne an. Eine Woche später leitete sie ein «People of Colour»-Treffen (POC) mit hundert Teilnehmenden und bot ein Medientraining für POC-Frauen an, welche sie darin unterrichtete, ihre Stimme besser zu finden, Interviews zu organisieren und in den Medien zu sprechen.

Dies war ein eindrückliches Beispiel dafür, dass es wohl eine Vielzahl von potenziellen Beiträgen gäbe, die sich zeigen und verwirklichen könnten, wenn wir die einzelnen Rollen im Feld erkennen und besetzen würden, wenn sie gebraucht werden. Wir sollten nicht vergessen, dass jener Mann, der mehr über die Ideen seiner Kollegin hören wollte, auch einen wichtige Beitrag leistete, denn die Rolle dessen, der etwas aufgreift, ist in sich bereits ein Beitrag!

Dieser Mann war einer der erfahrenen Organisatoren, die zuvor keinen Weg gefunden hatten, für die OWS nützlich zu sein. Er hatte wiederholt versucht, den OWS-Moderatoren Ratschläge zu geben, wie sie bessere GVs und eine nachhaltigere Bewegung erreichen könnten, ohne dass er viel erreichte. Doch jetzt wurde ihm klar, dass er (als einer der vielen wohlmeinenden Menschen, die zu Ratschlag-Gebern werden) steckengeblieben war in der Rolle dessen, der spricht. Er beschloss, etwas Neues zu versuchen und war diesmal in der Rolle des Ältesten, der zuerst zuhörte und erst dann sein Coaching anbot und wartete, bevor er seine eigenen Ideen einbrachte.

 

Eine weitere Betrachtungsmöglichkeit ergibt sich anhand der Kritik, die von den Mainstream-Medien gegen die OWS-Bewegung erhoben wurde: viele Köpfe und keine einheitliche Botschaft. Anstatt zu überlegen, ob diese Kritik richtig oder falsch sei, können wir versuchen herauszufinden, ob irgendetwas daran gut ist!

Wenn OWS eine Kreatur mit vielen Köpfen ist, kann jedermann/jedefrau ein Kopf sein. Wenn so viele Köpfe wunderschöne Lieder singen, ist es an uns allen, sowohl zuzuhören als auch unsere eigenen Lieder zu singen. Die schönsten und überzeugendsten davon werden gehört werden. (Diesen Artikel zu schreiben nachdem ich diesen engagierten Menschen mit voller Kraft zugehört habe, ist mein eigener Versuch, ein Lied beizutragen.) Aus dieser Perspektive sind wir alle potenzielle Anführerinnen und Anführer in dieser Bewegung.

Nach Arnold Mindells (2) Idee der «tiefen Demokratie» kann sich die Weisheit einer Gruppe oder einer Gemeinschaft dann zeigen, wenn alle Stimmen und Rollen eine Chance haben, gehört zu werden und zu interagieren. Vielleicht braucht das vielköpfige Wesen «Occupy Wall Street» gerade unser besonderes Lied. Die Welt versucht sich auszudrücken. Sie benützt uns dazu. Indem wir an unsere eigene Stimme, an unseren eigenen einzigartigen Teil glauben und indem wir aktiv auf diejenigen hören, die um uns herum sind, können wir der Weisheit und Kraft dieser Bewegung helfen, sich zu entwickeln.

 

(Fussnote)

(1) «Worldwork» wurde ab 1989 vom US-Psychologen und Schriftsteller Dr.Arnold Mindell entwickelt. Der Ausdruck bezeichnet ein facettenreiches Mediationsverfahren, welches auf der Basis der «tiefen Demokratie» mit Gruppen und Grossgruppen an deren Konflikten und Themen, an ihrer Geschichte und an ihren verschiedenen Zuständen arbeitet.

(2) Dr. Arnold Mindell ist Begründer der «Prozessorientierten Psychologie/Prozessarbeit». 1982 gründete er In Zürich mit Kollegen und Kolleginnen  die Forschungsgesellschaft für Prozessorientierte Psychologie. Er lebt und arbeitet in Portland, Oregon, wo sich auch das Process Work Institute befindet. Informationen über das Zentrum Prozessarbeit Zürich gibt es über www.prozessarbeit.ch

 

Biobox

Lane Arye, Ph.D., unterrichtet international Prozessarbeit und «Worldwork». Als Co-Leiter im Rahmen eines von der Uno finanzierten Projekts im Balkan arbeitete er mit serbischen, kroatischen und bosnischen Menschen an ihren Nachkriegserfahrungen und Traumata, ausserdem mit Konflikten zwischen den Kasten in Indien, mit Anti-Semitismus in Deutschland und Polen und mit Themen wie Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Homophobie und sozialen Spannungen in den USA. Er ist auch Musiker und Songwriter und schrieb das Buch «Unbeabsichtigte Musik» (Verlag Via Nova. 2004). Er lebt und arbeitet in Kalifornien.

Ursula Hohler ist dipl. analytische und prozessorientierte Psychologin und Psychotherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Zürich.

 

 

Factbox

Globaler Burn out

Lane Arye und Ursula Hohler werden im Rahmen der internationalen IAPOP-Konferenz vom 28. – 30. April 2012 zwei Workshops leiten. Die Konferenz mit dem Titel «GLOBALER BURN-OUT – Spannungsfelder, Krisen und Veränderungsprozesse» findet im Volkshaus Zürich statt.

www.iapop-conference.org