Introduction – German Language Version

Übersetzung von Sybille Herzog

Unbeabsichtigte Musik
Translated by Sybille Herzog

Einführung

Ungewollt entschlüpften meiner Gitarre seltsame Mißtöne. Es sollte ein Liebeslied sein. Doch jedesmal, wenn ich eine bestimmte Strophe sang, spielten meine Finger die falschen Noten. Ich begann von neuem, genoß die Harmonie der Akkorde und sang die sanfte Melodie, bis ich zu der gleichen Stelle kam und meine Finger sich wieder zu spielen weigerten, was ich komponiert hatte. Wie rätselhaft. Der Ton war so seltsam, so verschieden von dem übrigen Lied. Ich versuchte es noch einmal und machte den Fehler absichtlich. Meine Augen wurden langsam feucht, als mir bewußt wurde, daß diese bestimmte Zeile beschrieb, wie das Leben war, bevor ich meine Liebste traf. Die falschen Noten riefen genau dieselbe Sehnsucht und Leere hervor. Ich beschloß, den „Fehler“ mit einzuschließen in dem Gefühl, daß die Momente von Dissonanz das Lied ergreifender werden ließen.

Wann immer wir kreativ sind, geschehen, wie in anderen Lebensbereichen auch, einige Dinge, die nicht mit unserer Absicht einhergehen. Die unbeabsichtigten Aspekte der Musik, die wir machen — jene ungewollte Note, die gebrochene Stimme, jener merkwürdige, krächzende Ton, den wir zu vermeiden suchen, das rhythmische Problem, das wir selbst nach stundenlangem Üben nicht zu beseitigen vermögen —, enthalten mehr Weisheit als wir denken. Dasselbe gilt für den unerwarteten Farbspritzer auf der Leinwand, die schmachvolle Drehung auf der Tanzfläche oder den Schreibstau, der uns zur Verzweiflung treibt. Sie sind Mitteilungen von Teilen unserer selbst, unserer Musik und unserer Kunst, die jenseits unserer Wahrnehmung liegen. Das Unbeabsichtigte mit Neugier und Liebe zu erkunden kann uns dabei helfen, unsere tiefsten Quellen der Kreativität anzuzapfen und unsere Musik, unsere Kunst und letzlich unser Leben authentischer, bedeutungsvoller und origineller werden zu lassen.
Aber wie können wir an die Dinge glauben, die wir nicht mögen? Warum Musik machen, die falsch klingt? Sollten wir uns nicht darauf konzentrieren, das, was wir zu tun versuchen, zu verbessern und jede Anstrengung unternehmen, unsere Kunst so werden zu lassen, wie wir sie haben möchten? Was könnte möglicherweise an lästigen Störungen sinnvoll sein?

Es gibt eine alte jüdische Geschichte von einem König, der einen großen Diamanten von außergewöhnlicher Reinheit besaß. Er war sehr stolz auf jenen unvergleichlichen Edelstein. Eines Tages jedoch passierte ein Mißgeschick und der Stein bekam einen tiefen Kratzer. Alle Diamantschleifer stimmten darin überein, daß die Unvollkommenheit nicht entfernt werden könne, so sehr man den Diamant auch poliere. Doch ein Künstler gravierte eine zarte Rosenknospe um die Unvollkommenheit herum, indem er den tiefen Kratzer zum Stiel der Rose werden ließ. Dadurch wurde der Diamant sogar noch schöner, als er vor dem Mißgeschick gewesen war.

Eine alte taoistische Geschichte erzählt von einem Mann, der in den Bergen meditierte. Nach ein paar Jahren erschien ein Unsterblicher und fragte den Mann, was er tat. Er antwortete: „Ich versuche über den Berg zu meditieren, aber da ist zu viel Nebel, als daß ich ihn sehen könnte.“ Der Unsterbliche lachte und verschwand. Der Mann setzte seine Meditation fort. Einige Jahre später kehrte der Unsterbliche zurück und stellte dieselbe Frage. Der Mann antwortete: „Ich meditiere über den Nebel.“ Daraufhin verneigte sich der Unsterbliche tief und sagte: „Du bist mein Lehrer.“

Diese Geschichten illustrieren die uralten Wahrheiten. Anstatt die Dinge, die wir nicht mögen, zu ignorieren oder sie loszuwerden zu versuchen, vermögen wir sie in Dinge von Schönheit zu verwandeln oder unseren Fokus zu wechseln und zu erkennen, daß sie das sind, was wir schon immer gesucht haben. Wie die Alchemisten, die unedles Metall in Gold zu verwandeln suchten, können auch wir durch die Dinge, die wir für gewöhnlich als Abfall betrachten, eine Bereicherung erfahren.
Diese ewige Weisheit befindet sich im Herzen der Prozeßarbeit (oder Prozeßorientierten Psychologie), einer wunderbaren, von Arnold Mindell entwickelten Art und Weise, Menschen und die Welt wahrzunehmen und damit zu interagieren. Was auch immer unbeabsichtigt geschieht — was einen stört oder einem die besten Pläne durchkreuzt —, kann sich, wenn man ihm folgt, in etwas von großem Wert und großer Bedeutung verwandeln. Wenn etwas Unbeabsichtigtes oder Störendes geschieht, wird dadurch das Erscheinen der Natur, des Tao, des Geistes oder Gottes angekündigt. Jede Kultur hat ihren eigenen Namen dafür.

Mindell nennt diese Kraft den Traumprozeß. Die Aufgabe und die Leidenschaft der Prozeßarbeiterin besteht darin, den Traumprozeß in allen Bereichen der menschlichen Erfahrung zu finden, zu unterstützen und zu entfalten. Ursprünglich als eine Form der Psychotherapie entwickelt, wird die Prozeßarbeit heute auf so ausgedehnte Bereiche wie Träume, physische Krankheiten, extreme und veränderte Bewußtseinszustände, komatöse Zustände, Todes- und Nahtod-Erfahrungen, Meditation, Beziehungen, Gruppendynamik, Organisationsentwicklung und Konfliktlösung angewandt.
Dieses Buch zeigt auf, wie man seinem Traumprozeß folgt, während man eigentlich Musik macht. Diese Methoden eignen sich gleichermaßen für die Stimme, jedes Instrument und jeden Musikstil, ob geschrieben oder improvisiert, für Berufsmusikerinnen und Menschen, die keine Melodie halten können. Sie werden sehen, daß dieselben Ideen und Werkzeuge auf alle Arten von Kreativität und Ausdruck anwendbar sind. Eine solche Arbeit kann unglaublich lustig und spannend sein. Sie bringt auch unerwartete und mächtige Auswirkungen auf sowohl die Musikerin/Künstlerin als auch die Musik/Kunst selbst hervor. Die Linie zwischen Selbsterforschung und Kreativität verschwimmt, während wir uns zwischen diesen scheinbar voneinander getrennten Welten hin- und herbewegen und herausfinden, daß sie einander eigentlich ergänzen und vergrößern. Die Tür zwischen diesen Welten ist das Unbeabsichtigte.

Während eines Seminars arbeitete ich einmal mit einer Flötistin, Sharon, die damit begann, ein schönes, meditatives japanisches Stück zu spielen. Ich war hingerissen von der Schönheit der Musik und ihrem vollen, weichen Ton. Aber ich nahm von Zeit zu Zeit ein Anblasgeräusch wahr, das unbeabsichtigt zu sein schien. Sharon sagte, sie sei oft von diesem Anblasgeräusch gestört worden, das sie trotz vieler Jahre der Übung und Arbeit an ihrer Technik nicht habe loswerden können. Ich bat sie, noch geräuschhafter zu spielen. Als sie das tat, gelangte mehr Vibrato in ihr Spiel und der Klang liess die Luft im Raum mitschwingen. Als dieses nächste unbeabsichtigte Signal unterstützt wurde und Sharon versuchte, mit mehr Vibrato zu spielen, klagte sie darüber, eine Menge Luft zu verbrauchen. Ich schlug ihr vor, sogar noch mehr Luft zu gebrauchen. Doch dann vermochte sie nur kurze Phrasen zu spielen, da ihr die Luft zu schnell ausging. Als sie dies absichtlich tat, wurde die Art, wie sie ihren Mund hielt, schlaff, wodurch der Ton sehr schwach wurde.
Einige Minuten zuvor hatte Sharon wunderschön gespielt. Nun, nachdem sie einer Abfolge von unbeabsichtigten Signalen gefolgt war, konnte sie fast gar nicht mehr spielen. In solchen Momenten neige ich dazu, mich zu fragen, ob überhaupt etwas Brauchbares aus all dem entstehen kann, und manchmal beginnt es mir für die unglückliche Person, die sich freiwillig erboten hat, ihre unbeabsichtigte Musik zu erforschen, leid zu tun. Doch dann erinnere ich mich daran, wie oft solche Prozesse transformiert wurden, wie viele Rosen aus irreparablen Kratzern entstanden sind. Ich entspannte mich und machte weiter.

Ich bat Sharon, ihrem Mund zu erlauben, noch schlaffer zu werden. Als sie auf diese Weise zu spielen versuchte, kam überhaupt kein Ton aus der Flöte. Ich dachte, jetzt ist es passiert, Lane, du hast ihr Spiel ruiniert. Aber ich wartete. Sie sagte: „Ich habe keine Stimme.“ Dann begann sie zu weinen und sagte: „Ich hatte nie eine Stimme.“ Sie erzählte mir, niemand in ihrem Leben habe sie jemals gehört, sie fühle sich machtlos und wehrlos. Ich bat sie, jenes Gefühl zu spielen. Eine kaum hörbare, traurige Melodie kam aus ihr heraus. Einige der Zuhörenden begannen zu weinen. Plötzlich brach sie mitten in einer Note ab. Sie sagte, eine Stimme in ihrem Kopf habe ihr gesagt, sie solle aufhören. Sie erkannte, daß diese Stimme diejenige war, die sie immer zum Aufhören brachte. Deshalb hatte sie keine Stimme. Deshalb hörte sie niemand — weil sie sich nie ausdrücken durfte.
Das Blut schoß in Sharons Wangen, und ihre Augen öffneten sich weit, als ihr die Auswirkung dieser inneren Stimme bewußter wurde. Es machte sie wütend, daß diese Stimme sie ihr Leben lang gestoppt hatte. Ich schlug vor, sie solle ihre Flöte wieder aufnehmen und zunächst die Stimmlose spielen, dann den Stopper und schließlich ihre Reaktion auf den Stopper. Das war unglaublich. Zunächst spielte sie mit einer Menge Gefühl und beinahe ohne Ton dieselbe traurige Melodie wie zuvor. Dann kam eine laute, plötzliche Note, gefolgt von Stille. Dann begann sie rasende, wilde, heftige, wütende, ekstatische Kaskaden von Tönen zu spielen. Sie waren leidenschaftlich und kompliziert, volltönend und komplex. Sie kamen aus ihr heraus wie aus einem ausbrechenden Vulkan, einer Maschinenpistole, wie ein ekstatischer Tanz, wie der Speichel, der von ihren Lippen flog.

Als sie aufhörte, stand sie eine lange Zeit da, in heiliger Scheu vor dem, was sie getan hatte. Sie hatte nie zuvor so gespielt. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß es überhaupt möglich war, so zu spielen. Sie wußte nicht einmal, daß all jene Emotionen in ihr vorhanden waren, geschweige denn, daß sie sie mit ihrer Flöte zum Ausdruck bringen konnte. Sie kannte jenen Teil ihrer selbst oder ihrer Musik nicht.
War das nun Musik oder handelte es sich dabei um Selbsterforschung? Ja. Unbeabsichtigte Musik führte Sharon an Orte in ihr selbst, die sie nicht kannte. Und sie half ihr, Musik auf eine Art und Weise zu spielen, die sie sich nie vorgestellt hatte. Musik und persönliches Wachstum sind sich miteinander verflechtende Zeilen eines Traumliedes.

Musik ist meine Leidenschaft und der Brennpunkt dieses Buches. Doch alles, was hier erörtert wird, kann auf jedes kreative Medium angewandt werden. Sie können das ganze Buch lesen und Musik als eine Metapher betrachten für das, was auch immer Sie erschaffen möchten oder die Art und Weise, wie auch immer Sie sich ausdrücken möchten. Das Wort Musik wird hier als eine Art Abkürzung benutzt. Fühlen Sie sich jedesmal, wenn ich „unbeabsichtigte Musik“ schreibe, frei, unbeabsichtigtes Malen oder Schreiben oder Filmen oder Tanzen oder was immer Ihr gewähltes Medium ist zu lesen. Sie können immer dieselben Prinzipien anwenden, ob Sie nun öffentlich sprechen, mit Freunden reden, Liebe machen, einen Garten anpflanzen, Ihre Wohnung einrichten oder sich einfach inspiriert fühlen oder Inspiration suchen. Das Leben selbst kann Ihr kreatives Projekt sein.

Dieses Buch richtet sich an Musikerinnen, Musiker und Menschen, die davon überzeugt sind, ganz und gar nicht musikalisch zu sein. Es richtet sich an Künstlerinnen aller Art und Menschen, die glauben, keinen Funken Kreativität in den Knochen zu haben. Es richtet sich an alle, die sich nach umfassenderem und authentischerem Ausdruck sehnen. An jene Person, der stets gesagt wurde, wie langweilig und durchschnittlich sie sei, deren winziger kreativer Funke nur ein wenig Liebe und Ermutigung braucht, um sich in eine kreative Flamme zu verwandeln. An jene Person, die schon in einem frühen Alter davon abgehalten wurde, Neues zu versuchen, die von dem Mut zu experimentieren träumt. An jede, die blockierte Kreativität erlebt hat und nach Wegen sucht, die Quelle der Inspiration wieder zu erschließen. An jeden, der den Pfad des Herzens gehen möchte und sich danach sehnt, seine Ohren einer inneren Führung zu öffnen. An Musiklehrer und Musikstudenten, Kunstlehrerinnen und Kunststudentinnen. An Musiktherapeutinnen, Kunsttherapeutinnen, Sprachtherapeutinnen und Psychotherapeutinnen. Die vielen Beispiele, die ich eingeschlossen habe, geben Ihnen einen Einblick in die große Vielfalt an Entstehungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von unbeabsichtigter Musik. Ich hoffe, daß Sie, indem Sie von den Erfahrungen anderer lesen, dazu inspiriert werden, Ihre eigene unbeabsichtigte Musik zu erforschen.

Draußen vor meinem Fenster weht ein starker Wind. Ich vermag den Wind selbst nicht zu sehen. Aber ich kann die Blätter an den Bäumen zittern und die Laken sich wie Segel auf der Wäscheleine blähen sehen. Gleichermaßen beeinflußt der Traumprozeß — obgleich er nicht unmittelbar zu sehen ist — Sie und Ihre Musik auf ungesagte Weisen. Wenn Sie jene geheimnisvolle Quelle erschließen und ihr zu folgen lernen, werden Sie und Ihre Musik nicht mehr sein wie vorher.

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